Die Leute an die Hand nehmen

„Digitalisierung muss von unten, von der Baustelle aus, kommen“

Oliver Eischet ist Mitgründer und Geschäftsführer von specter automation. Mit ABZ-Redakteur Christoph Scholz sprach er über die Baustellen-Assistenz-Software des Unternehmens sowie über die Hürden der Digitalisierung in Deutschland und wie diese gelöst werden könnten.

Oliver Eischet. Foto: specter automation

ABZ: Würden Sie sich und Ihr Unternehmen kurz vorstellen?

Eischet: Ich komme ursprünglich aus Aachen, habe dann in der Nähe von Koblenz Betriebswirtschaftslehre studiert und mich nach Abschluss des Bachelors in der Schweiz auf das Thema Unternehmertum fokussiert. Über meinen späteren Mitgründer bin ich dann im ersten Corona-Sommer auf die Bauindustrie aufmerksam geworden. Mit seinem Hintergrund in der Bauindustrie und im autonomen Fahren sind wir damals der Idee nachgegangen, Turmdrehkräne zunächst aus dem Büro heraus zu steuern und später zu automatisieren. Wir haben in dieser Phase allerdings realisiert, dass die Bauindustrie ein ganz anderes, aber sehr zentrales Problem hat: nämlich den Bruch zwischen der Planung und der Ausführung von Bauprojekten. Ein paar Jahre weiter haben wir eine fertige Softwarelösung, die in ganz Deutschland genau diesen Bruch löst und damit Baustellen einfach digitalisieren lässt. Wir setzen auf den bestehenden Planungsdaten auf, das heißt vor allem 2D-Pläne oder, sofern vorhanden, 3D-Modelle, Terminpläne und Kalkulationsdaten. Diese Daten bringen wir für Bauleiter und Poliere einfach auf die Baustelle, um mittels Daten und Visualisierung die Bauprozesse zu vereinfachen und lästige Organisationsarbeiten zu automatisieren. Daraus ist dann vor mittlerweile drei Jahren specter automation entstanden. Jetzt sind wir über 25 Mitarbeitende und dürfen mit den größten Generalunternehmen in Deutschland, aber auch mit klassischen Mittelständlern zusammenarbeiten, um Baustellen zu digitalisieren und Prozesse zu automatisieren.

ABZ: Und Ihr Hauptprodukt ist Ihr Assistenzsystem?

Eischet: Exakt. Abstrakt gesprochen, sind wir eigentlich eine modellbasierte To-do-Liste, wenn man so möchte. Das heißt, wir stellen die 3D-Modelle – die entweder vom Kunden selbst kommen oder von uns erstellt werden – ins Zentrum. Denn jeder Polier und Bauleiter, aber auch Bauherren, Architekten, Statiker und sogar Industriefremde können mit einem solchen Modell natürlich sehr viel anfangen, da es genau das visualisiert, was draußen gebaut wird. Wir sehen 3D-Modelle dementsprechend auch als den einfachsten Zugang zu diesen Daten. Ich klicke auf ein Bauteil, und erhalte Informationen dazu. Von Dimensionen, über Arbeitsschritte, Materialmengen et cetera. Und das ist letztendlich auch genau wie unser Produkt funktioniert. Das heißt, Bauleiter oder Poliere klicken auf die Bauteile, die sie planen möchten und zu diesen Bauteilen erfahren sie dann, "wann soll das nach Terminplan gebaut werden und "welche Arbeitsschritte beziehungsweise Gewerke sind denn hierfür überhaupt notwendig". Sie können dann die Baustelle modellbasiert steuern, indem sie beispielsweise sagen: "Okay, Dienstag wird eingeschalt, Mittwoch bewert und Donnerstag wird betoniert". Darauf aufbauend automatisieren wir dann Prozesse, die letztendlich dem Baustellenteam Organisationsarbeit von bis zu 40 Prozent sparen können. Dazu gehört es zum Beispiel, den Live-Baufortschritt zu erfassen. Per Klick auf "Status" erfahre ich direkt im Modell, wo die Baustelle gerade steht, welche Arbeitsschritte abgeschlossen sind, was geplant ist und was sich verzögert. Wir erstellen einen automatischen Live-Terminplan und können sagen, wie viel Prozent einer Etage wann abgeschlossen sind, welche Meilensteine als nächstes erreicht werden und ob der Endtermin gefährdet ist. Und natürlich wird darüber auch die gesamte Baustelle automatisch dokumentiert.

ABZ: Handelt es sich dabei um eine Online-Plattform oder eine Bausoftware?

Eischet: Wir sind grundsätzlich webbasiert, verfügbar beispielsweise auf dem PC oder dem Tablet. Auf dem Smartphone sind wir ebenfalls aufrufbar und dementsprechend sehr flexibel im Anwendungsbereich. Ein weiterer zentraler Faktor ist die Modellgröße, die wir sehr stark komprimieren können, damit die Software flüssig im Browser funktioniert. Das Interessante bei uns ist, dass wir auf den bestehenden Daten aufsetzen. Das heißt: Wir sind kein CAD-Tool, in dem Modelle gezeichnet werden, oder eine AVA-Software in der Leistungsverzeichnisse erstellt werden. Stattdessen können wir das bestehende Modell (von dem Generalunternehmer, dem Statiker oder dem Architekten), den bestehenden Terminplan und die bestehenden Kalkulationsdaten importieren und sie mit dem 3D-Modell verknüpfen. Und das ist nach wie vor auch einer der größten Herausforderungen für uns, weil die Daten der Kunden sehr heterogen sind. Unternehmen arbeiten mit unterschiedlichen Softwares und wir programmieren sogenannte Pipelines, die all diese bestehenden, unterschiedlichen Daten verarbeiten und komprimieren, um sie anschließend über das 3D-Modell intuitiv auf die Baustelle zu bringen.

ABZ: Und wenn ich jetzt diese Daten hochgeladen habe, werden diese dann automatisch von der Plattform bearbeitet oder erledigen das Mitarbeiter im Hintergrund?

Eischet: Der Großteil unseres Projekt-Setups ist mittlerweile automatisiert. Wir haben natürlich Leute, die die Qualitätsüberprüfung übernehmen und schauen, ob die Algorithmen auch entsprechend den Terminplan mit dem Modell verknüpft haben. Das heißt, wir schauen natürlich schon nochmal drüber, aber grundsätzlich können wir dadurch extrem schnell Projekte aufsetzen, und das Wichtigste an der ganzen Geschichte ist, dass das Bauunternehmen beziehungsweise der Generalunternehmer keinen Aufwand hat. Er schickt uns seine ohnehin existierenden Daten und wir übernehmen den Rest. Außerdem haben wir über die Jahre natürlich extrem viel an Modellen und auch Terminplänen gesehen und können das erworbene Wissen auch weitergeben, um die Datenqualität schrittweise zu verbessern.

ABZ: Und diese Plattform ist jetzt in der Testphase?

Eischet: Nein, wir sind bereits in fünf Sprachen live und haben gerade sogar unser erstes Projekt in Japan gestartet. Unser erstes Testprojekt haben wir im August 2021 begonnen. Das war ein Industriebau, der durch die relativ standardisierte Bauweise mit vielen wiederkehrenden Arbeitsschritten ein gut geeignetes Pilotprojekt war. Ende 2021 sind wir dann in den Wohnungsbau vorgedrungen und haben dann im Verlauf von 2022 auch das Thema Infrastruktur mit hinzugenommen, also Straßen und Brückenbau. Mittlerweile gibt es Generalunternehmen wie die Firma Nesseler, die uns bereits vollständig ausgerollt haben, sodass jedes neue Bauvorhaben mit specter gebaut wird. Mit Züblin und Strabag dürfen wir eines der prestigeträchtigsten Bauvorhaben überhaupt abwickeln – ein US-Militär-Krankenhaus nahe Weilerbach auf einer Gesamtfläche von 12 Hektar. Also nein, wir sind nicht mehr in der Testphase, sondern bei uns werden bereits millionen- und teilweise milliardenschwere Bauprojekte gesteuert. Natürlich sind wir aber weiterhin sehr viel auf Baustellen aktiv, weil eine Software unserer Meinung nach nie wirklich fertig sein kann. Denn wir legen weiterhin großen Wert darauf, dass Bauleiter und Poliere unser Produkt aktiv mitentwickeln.

ABZ: Welche Weiterentwicklungen sind denn geplant?

Eischet: Ich glaube, wir haben bisher sehr stark den Fokus auf uns gelegt. Vor Kurzem haben wir jedoch die erste Schnittstelle aufgesetzt, mit der wir jetzt Partnerlösungen integrieren, denn letztendlich ist das Thema Bauausführung natürlich gigantisch und alle wünschen sich die sogenannte eierlegende Wollmilchsau. Die Software, die alles abdeckt. Das birgt aber natürlich die Gefahr, dass die Software so komplex wird, dass sie für die Baustelle nicht mehr praktikabel ist. Das war und ist aber immer unser Anspruch, dass es wirklich einfach sein muss. Poliere und Bauleiter müssen innerhalb von 30 bis 40 Minuten verstanden haben, was wir machen, was wir können, wofür sie uns nutzen und wofür auch nicht. Das heißt, wir haben wirklich sehr kurze Onboarding-Zeiten und uns deswegen bewusst entschieden, dass wir das Thema Digitalisierung und vor allem Automatisierung auf der Baustelle nicht alleine lösen können und wollen. Deswegen haben wir beispielsweise bereits eine Integration geschaffen, wo es darum geht, den Bau-Fortschritt kamerabasiert zu erkennen und diese Daten zu nutzen, um bei uns die To-do-Liste automatisch abzuhaken. Andere Themen, an denen wir mit Partnern arbeiten, sind beispielsweise Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung, Mängel-Management sowie Lieferungen.

ABZ: Auf welchem Stand sehen Sie denn momentan die Digitalisierung in Deutschland?

Eischet: Im internationalen Vergleich – gerade mit Blick auf Skandinavien, Großbritannien oder auch die USA – hat Deutschland sicher einiges an Nachholbedarf. Speziell in der Bauindustrie, die ja immer als die am zweitschlechtesten digitalisierte Industrie bezeichnet wird, mangelte es lange Zeit an digitalen und pragmatischen Lösungen. Allerdings ist es in diesem Fall tatsächlich ein weltweites Problem, das weit über Deutschland hinausgeht. Interessant ist dabei, dass wir eigentlich eine bereits sehr digitalisierte Planungsphase haben, in welcher Unmengen an Datenpunkten aufwendig erzeugt werden. Demgegenüber stehen viele, oftmals auch sehr komplexe Baustellen, die vor Ort noch völlig analog gesteuert werden. Das heißt, mittels Stift und Papier oder mit Post-its wird gesagt, wann, was, von wem und mit welchem Material erledigt werden soll. Und das ist der eingangs angesprochene Bruch zwischen der Planung und Ausführung, der uns letztendlich so schlecht digitalisiert erscheinen lässt. Wir setzen genau dort an und lösen den Bruch, indem wir auf den ohnehin bestehenden Daten aufsetzen. Das heißt, wir müssen gar nicht anfangen, neue Daten zu erstellen, sondern vielmehr geht es darum, einen durchgängigen Informationsfluss zu erzeugen, von der Planung über die Ausführung bis in den Baubetrieb und dann später in die Modernisierung oder den Rückbau. Das ist eigentlich die große Herausforderung der Industrie, wo wir mit unserer Software maßgeblich unterstützen wollen. Aber wenn wir uns speziell das Thema BIM anschauen, da müssen wir uns natürlich eingestehen, dass gerade die skandinavischen Länder dort Vorreiter waren. Ich glaube, Finnland war 2007 das erste Land mit einem BIM-Mandat. In Deutschland redete man dann, ich glaube es war 2015, das erste Mal von dem BIM-Stufenplan. Das heißt, da hängen wir natürlich auch auf regulatorischer Seite einfach ein Stück weit hinterher, wobei gerade hier enorm viel passiert. Seitens der Politik, aber vor allem auch seitens der Bauunternehmen. Und ein ganz wichtiger Aspekt, der das Thema auch sehr vorantreibt, ist die Nachhaltigkeit. Auf globaler Ebene reden wir alle immer von Net Zero 2050. Und 2050 ist in der Bauindustrie heute. Denn wir müssen heute damit anfangen, die Daten jener Gebäude und Infrastruktur zu sammeln, die wir dann in 30 Jahren wiederum modernisieren. Und dazu müssen wir vor allem pragmatische, digitale Werkzeuge für die Baustelle bieten, um diese Daten strukturiert und automatisiert zu erheben.

ABZ: Würden Sie sagen, dass das Thema BIM hierzulande negativ konnotiert ist?

Eischet: Ich würde sagen, es gibt eine sehr hohe Diskrepanz in der Wahrnehmung von BIM. Die Wahrnehmung hängt sehr stark davon ab, mit wem man redet. Wenn wir jetzt mit Geschäftsführern reden, mit dem Digitalisierungsleiter oder BIM-Leitern bei größeren Unternehmen, die schwärmen natürlich von der Technologie, weil es einfach extrem vielversprechend ist und auch schon heute große Mehrwerte durch konkrete Anwendungsfälle erzeugt. Dennoch sehen wir, gerade, wenn wir uns internationale Umfragen anschauen, dass es eigentlich bis heute keinen Anwendungsfall gibt, wo BIM auf der Baustelle konsequent genutzt wird. Wenn man heute auf eine Baustelle geht und mit einem Bauleiter redet und ihm die Arbeit mit BIM vorschlägt, sagt der Bauleiter erst mal nein. Dort herrscht, glaube ich, diese negative Konnotation, dass Leute von dieser Technologie überfordert werden beziehungsweise es mit mehr Aufwand und mehr Arbeit verbinden. Oftmals sind die Vorteile, die sich aus dem digitalen Vorplanen und der konsequenten Weiternutzung der Informationen ergeben, schlichtweg für die Baustelle nicht ersichtlich. Und ich persönlich glaube, das hat viel damit zu tun, dass nicht von der Baustelle aus gedacht wird. Vielmehr kommt man heute aus der Perspektive der Planung und verfolgt oftmals den auf den ersten Blick plausiblen Gedanken: "Okay, wir erstellen jetzt das wunderbarste Modell mit den detailliertesten Informationen, und dann bringen wir es auf die Baustelle. Aber dann hakt das Modell, dann ist die Bedienung zu komplex und der Polier klickt auf ein Bauteil, sieht zig verschiedene Attribute, möchte aber eigentlich nur die Dimensionen wissen, um seine Beton-Bestellung zu tätigen. Was ich damit sagen will, ist Folgendes: Wir sollten uns viel mehr daran orientieren, was wirklich die Informationsbedürfnisse sind, die auf der Baustelle herrschen und wie wir diese einfach erfüllen. Denn, wenn es eine Sache gibt, die essenziell ist, um die Leute vor Ort abzuholen, dann ist es Einfachheit in der Bedienung. Die meisten Bauprojekte sind zu stressig und zu komplex, um sich erst drei Wochen für eine Software schulen zu lassen, die sich im Endeffekt nicht an den Prozess der Baustelle anpasst. Stattdessen müssen wir wirklich die Leute an die Hand nehmen und sie fragen, was ihnen in ihrem Arbeitsalltag hilft. Und dann von der Baustelle aus zurückdenken, damit wir die Modelle entsprechend erstellen beziehungsweise entsprechende Filter setzen können, sodass wir den Leuten nur die Informationen mitgeben, die auch für sie im jeweiligen Zeitpunkt relevant sind. Ich hatte erst kürzlich eine Baustelle in Düsseldorf. Der Polier ist 61 Jahre alt und hat am Anfang gesagt, dass er in vier Jahren in Rente geht und sich jetzt trotzdem noch mit uns beschäftigen muss. Nach einer Stunde war er aber überzeugt, weil er sich selber und seine Arbeitsweise in unserer Software wiederfinden konnte. Und das ist ganz, ganz wichtig, weil wir eben über die letzten drei Jahre ausschließlich von der Baustelle aus entwickelt haben und sich Leute dementsprechend damit identifizieren können und nicht sagen: "Jetzt kriege ich hier irgendetwas vorgesetzt, von oben herab diktiert." Nein, Digitalisierung muss von unten, von der Baustelle aus, kommen, damit sie wirklich gelebt wird. Und ich glaube, das ist der entscheidende Aspekt, warum BIM heutzutage zumindest bei Ausführenden negativ konnotiert ist, weil Leute damit überfordert und nicht an die Hand genommen werden.

ABZ: Nun werden Sie wahrscheinlich nicht mit 25 Mitarbeitern auf jeder Baustelle unterwegs sein können und die Leute vor Ort befragen. Wie holen Sie Ihr Feedback ein?

Eischet: Zum Glück gibt es neben dem typischen Baustellenbesuch mittlerweile auch viele digitale Formate. Oft reden wir mit der Baustelle auch einfach über Telefon, so wie es die Jungs und Mädels auch gewohnt sind. Ein normales Projekt läuft folgendermaßen ab: Wir bekommen vorab die Daten zugeschickt, Mindestvoraussetzung ist dabei einfach nur ein 2D-Plan, bestenfalls gibt es ein 3D-Modell inklusive Terminplan und Kalkulation. Wir setzen das Projekt in specter auf und fahren dann auf die Baustelle. Sobald der Rohbau beginnt, sind wir vor Ort und machen eine Schulung. Die dauert meistens eine gute Stunde, in der wir den Polier direkt an den Laptop setzen. Wir begleiten ihn und weisen ihn wirklich Schritt für Schritt an, wie er das Modell bedient und wie er per Drag-and-Drop die Arbeitsschritte auf die jeweiligen Tage zieht. Nach dieser Stunde hat er die Software und vor allem das Kernprinzip von uns verstanden, welches aber wirklich sehr simpel ist: Ich klicke auf die Bauteile, die ich bauen möchte und ziehe die Arbeitsschritte auf den Tag, an dem sie geschehen sollen. Fertig. Aber es funktioniert eben nicht, wenn man einfach jemandem ein Tablet in die Hand drückt und sagt "jetzt mach mal digital". Wir schicken auch unsere Entwickler immer regelmäßig auf die Baustelle, um auch mal zu erfahren, wie es vor Ort ist, weil wir wirklich einfach das Mantra haben, von der Baustelle aus zu denken. Das hat sich über die Jahre als Erfolgsmodell bewährt, und so sind wir auch für Rückfragen immer da. Wir machen auch einen kurzen Check nach einem Monat, um zu sehen, ob alles soweit gut läuft, aber tatsächlich laufen die Baustellen sehr schnell von alleine. Denn im Endeffekt geht immer die Baustelle vor und wir wollen lediglich mit unserer Software assistieren.